Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 26/2011 vom 06. April 2011
Beschlüsse vom 8. März 2011
1 BvR 47/05
1 BvR 142/05
Zur polizeilichen Ingewahrsamnahme eines Beschuldigten zwecks Feststellung
seiner Identität und Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen
Die Beschwerdeführer betraten zusammen mit einer Gruppe von etwa 100
Personen aus dem Umfeld der sogenannten Bauwagenszene ohne Erlaubnis ein
Grundstück, um das Gelände als neuen Wohnsitz und Abstellort für mehrere
mitgeführte Bauwagen zu nutzen. Nachdem gegen sie seitens der
Grundstückseigentümerin Strafantrag gestellt worden war, stellte die
Polizei vor Ort die Identität der noch anwesenden Personen fest,
umstellte die Gruppe und teilte ihnen mit, dass sie wegen Verdachts des
Hausfriedensbruchs vorläufig festgenommen seien. Sowohl vor als auch
während der anschließenden polizeilichen Räumung des Platzes wiesen die
Beschwerdeführer sich unter Vorlage von gültigen Ausweispapieren aus.
Sie wurden sodann zunächst auf die Polizeiwache und später auf das
Polizeipräsidium gebracht, wo sie jeweils in einer Zelle eingeschlossen
waren. Zur erkennungsdienstlichen Behandlung, die in der Anfertigung von
zwei bzw. drei Lichtbildern bestand, befanden sie sich mehr als fünf
bzw. mehr als acht Stunden im Polizeigewahrsam.
Die Anträge der Beschwerdeführer auf gerichtliche Feststellung, dass
Grund, Dauer und Durchführung der Freiheitsentziehung rechtswidrig
waren, hatten im Berufungsverfahren vor dem Landgericht bzw. bereits vor
dem Amtsgericht keinen Erfolg. Das Festhalten der Beschwerdeführer sei
gemäß § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO zur Feststellung ihrer Identität
jedenfalls bis zur Vorlage ihrer Personalausweise rechtmäßig gewesen.
Ihre daran anschließende Verbringung zu den Polizeidienststellen zur
Anfertigung von Lichtbildern finde ihre gesetzliche Grundlage in § 81b
Alt. 1 StPO. Für eine eindeutige Beweisführung sei es erforderlich
gewesen, das tatsächliche damalige Aussehen der Beschwerdeführer zu
dokumentieren. Die Dauer der Ingewahrsamnahme sei der Vielzahl der zu
erfassenden Personen geschuldet. Eine Freiheitsentziehung sei darin
nicht zu sehen.
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat
entschieden, dass die fachgerichtlichen Beschlüsse, soweit sie die
Maßnahmen der Polizeibehörden auch nach Vorlage und Überprüfung der
Ausweispapiere für rechtmäßig erklären, die Beschwerdeführer
insbesondere in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs.
2 Satz 2 GG verletzen. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht die
angegriffenen Beschlüsse aufgehoben und die Sachen zur erneuten
Entscheidung an das Landgericht bzw. Amtsgericht zurückverwiesen.
Den Entscheidungen liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Die fachgerichtlichen Beschlüsse genügen nicht den Anforderungen, die
sich unter Berücksichtigung der Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit
der Person des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG aus dem verfassungsrechtlichen
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben. Denn die von den
Fachgerichten für rechtmäßig erklärten polizeilichen Maßnahmen erweisen
sich, unabhängig davon, auf welcher rechtlichen Grundlage sie ergangen
sind, nicht als erforderlich zur Erreichung des angestrebten Zwecks.
Die Vorschrift des § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO lässt ein Festhalten zur
Identitätsfeststellung nur zu, wenn die Identität sonst nicht oder nur
unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Als
gesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen
Verhältnismäßigkeitsgebots stellt die Vorschrift sicher, dass ein
Eingriff in die persönliche Freiheit nur dann erfolgt, wenn er zur
Feststellung der Identität unerlässlich ist. So verhielt es sich hier
nicht. Die Beschwerdeführer hatten sich vor Ort mit Ausweispapieren
ausgewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass die Ausweise gefälscht waren oder
die Personen nicht mit dem Ausweisinhaber übereinstimmten, sind nicht
ersichtlich. Daher ist - insbesondere im Hinblick auf das
verfassungsrechtlich fundierte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen bloßer
Identitätsfeststellung und weiterem Festhalten - davon auszugehen, dass
es den Polizeibeamten möglich war, die Identität vor Ort hinreichend
sicher festzustellen. Ein Festhalten aus reinen
Praktikabilitätserwägungen vermag die Erforderlichkeit der Maßnahme
nicht zu begründen.
Auch ein Festhalten der Beschwerdeführer auf der Grundlage von § 81b
Alt. 2 StPO war unverhältnismäßig. Selbst wenn man davon ausgeht, dass
trotz eindeutig festgestellter Identität der Beschwerdeführer die
Erinnerung der einzelnen Polizisten als Zeugen vor Gericht aufgrund der
Vielzahl an Personen ohne weitere Fotos nicht hinreichend gewährleistet
gewesen wäre und es als Erinnerungsstütze noch ein Bedürfnis nach
weiteren Beweismitteln gab, rechtfertigt dies nicht ein stundenlanges
Festhalten und Einsperren. Zwar kann die Masse der zu bearbeitenden
Fälle eine organisatorisch nicht vermeidbare und mäßige Wartezeit sowie
ein Verbringen an andere Polizeidienststellen zur Durchführung
erkennungsdienstlicher Maßnahmen jedenfalls bei hinreichend gewichtigen
Straftaten rechtfertigen. Hier sind die Beschwerdeführer jedoch erst
nach mehreren Stunden im Polizeipräsidium lediglich insoweit
erkennungsdienstlich erfasst worden, dass von ihnen wenige einfache
Fotoaufnahmen angefertigt wurden. Im Rahmen der
Verhältnismäßigkeitserwägungen hätte es daher zur Annahme der
Erforderlichkeit der mehrstündigen Ingewahrsamnahme einer genaueren
Auseinandersetzung mit anderen weniger einschneidenden, aber gleich
erfolgversprechenden Maßnahmen bedurft, wie etwa der Fertigung
entsprechender Aufnahmen vor Ort, als die Personen einzeln zur
Identitätsfeststellung herausgeführt wurden.
Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer zudem in
ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 104 Abs. 2 GG. Danach ist die
Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer
Freiheitsentziehung allein dem Richter vorbehalten, die spätestens
unverzüglich nach Beginn der Freiheitsentziehung zu treffen ist. Das
Einsperren der Beschwerdeführer in Gewahrsamszellen sowie das Verbringen
dorthin stellen eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG
und nicht lediglich eine Freiheitsbeschränkung dar. Anders als im
Regelfall von § 81b StPO wurden die Beschwerdeführer nicht allein zur
Dienststelle verbracht und umgehend erkennungsdienstlich behandelt,
sondern zunächst über einen Zeitraum von mehreren Stunden allein
verwahrt. Bei der gebotenen Qualifikation der Maßnahme als
Freiheitsentziehung hätten sich die Fachgerichte mit der Frage der
Notwendigkeit der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung, mit
den hierzu getroffenen organisatorischen Voraussetzungen sowie mit den
Maßnahmen im Einzelfall befassen müssen.
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